Wirbel um Daily-Telegraph-Affäre
Donnerstag, 31. Dezember 1908
Ein Interview Kaiser Wilhelms II. mit der britischen Zeitung »Daily Telegraph« sorgt in London wegen darin enthaltener Taktlosigkeiten für Empörung und löst im Deutschen Reich eine Staatskrise aus. Am meisten bewegt die Deutschen die Zerstörung des Zeppelin-Luftschiffes »LZ 4«.
Staatskrise: Im »Daily Telegraph« erscheint am 28. Oktober ein Interview mit Kaiser Wilhelm II. ohne ausreichende Korrektur durch den Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. In nicht abgestimmten Äußerungen erklärte der Kaiser, er habe während des Burenkriegs eine europäische Union gegen England verhindert und seiner Großmutter Königin Viktoria den Kriegsplan für den Feldzug gegen die Buren übersandt. Das Interview gibt den anti-deutschen Ressentiments in Großbritannien neue Nahrung und führt im Deutschen Reich zu einem Aufschrei der Empörung über die törichten Alleingänge des Kaisers. Die Krise, die Wilhelm II. fast zur Abdankung zwingt, endet mit dem Vertrauensverlust zwischen Reichskanzler und Kaiser und führt zu einer Stärkung des konstitutionellen Prinzips im Deutschen Reich.
Luftschiff zerstört: Wegen eines Motorschadens muss die »LZ 4« des Grafen Ferdinand von Zeppelin am 5. August bei Echterdingen notlanden. Dort wird das Luftschiff in einem Sturm völlig zerstört. Der Vorgang wird als nationale Katastrophe beklagt. Eine Nationalspende erbringt in wenigen Wochen 6 Mio. Mark für den Bau eines neuen Luftschiffs, der »LZ 5«.
SPD im Landtag: Trotz des Dreiklassenwahlrechts gelingt es den Sozialdemokraten am 16. Juni erstmals, in den Preußischen Landtag einzuziehen. Der Wahlausgang, bei dem die SPD sieben Mandate erringt, ist ein Indiz für das Erstarken der Arbeiterbewegung. Unter den SPD-Abgeordneten befindet sich Karl Liebknecht, der wegen Verbreitung pazifistischer Schriften und »Hochverrats« seit 1907 inhaftiert ist.
Länderspiel-Premiere: Beim ersten offiziellen Länderspiel einer Auswahlmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes siegt am 5. April der Gastgeber Schweiz mit 5:3. Das Spiel findet vor 3000 Zuschauern bei strömendem Regen in Basel statt. Landsmannschaftliche Eifersüchteleien waren dafür verantwortlich, dass nicht die besten deutschen Spieler auflaufen durften, sondern eine nach Landesverbänden gewichtete Auswahlmannschaft.
Schach-WM: Beim Turnier um die Schach-Weltmeisterschaft zwischen dem aus Brandenburg stammenden Titelverteidiger Emanuel Lasker und dem Nürnberger Siegbert Tarrasch setzt sich der Weltmeister am 20. September mit seinem achten Sieg bei drei Niederlagen und fünf Remis durch. Lasker spielt variabler, risikofreudiger und ist dem Herausforderer psychologisch überlegen.
Ammoniak: Am 13. Oktober wird ein Verfahren zur Ammoniak-Synthese zum Patent angemeldet, nachdem es dem Chemiker Fritz Haber erstmals gelungen ist, Ammoniak künstlich herzustellen. Die Chemikalie dient zur Herstellung von Stickstoffdünger für die Landwirtschaft.
»Sittenverfall«
»Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit« nennt der Berliner Pädagoge und Philosoph Friedrich Paulsen eine Sammlung von Aufsätzen, deren gemeinsames Thema der Niedergang der Moral im Deutschen Reich ist. Der »allgemeine Verfall der Sitten« ist in aller Munde.
Kaum ein Tag vergeht, an dem Zeitungen nicht über neue Prozesse berichten, in denen »Unsittliche« verurteilt werden. Selbsternannte Tugendwächter lassen sich über Zügellosigkeit und Perversität aus. Dabei herrschen Heuchelei und Doppelmoral vor. Animierkneipen und getarnte Bordelle verzeichnen die besten Geschäfte.
Im Mittelpunkt der Sittlichkeitsdiskussion stehen seit Jahren die gesetzlichen Regelungen der 1900 verabschiedeten Lex Heinze. Das nach einem Berliner Zuhälter benannte Gesetz sollte die Strafen bei Sittlichkeitsdelikten verschärfen. Ein vorgesehener sog. Kunst- und Theaterparagraph wurde nach langer Obstruktionspolitik der Sozialdemokraten und Freisinnigen im Reichstag darauf beschränkt, den Verkauf »schamloser Schriften und Bilder« an Personen unter 16 Jahren mit Strafen zu belegen. Das aber war den Sittlichkeitswächtern zu wenig. In der Folge wurden zahlreiche sog. Sittlichkeitsvereine gegründet, mit dem Ziel, »Schmutz und Schund« zu bekämpfen.
Opfer eines solchen Vereins wurde u.a. der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma, der sich in satirischen Briefen des fiktiven Landtagsabgeordneten Josef Filser mit der Sittlichkeitsdiskussion auseinandersetzt. Auch der Autor Frank Wedekind ruft vielfach die Hüter der Moral auf den Plan.